23. April 2024
Die Antilopen Gang inszeniert sich in ihrem neuen Song als kritisch und unangepasst, nur um dann jegliches ernsthafte Denken einer konservativen politischen Agenda im Nahostkonflikt zu opfern. Kein Wunder, dass Springerpresse und -publikum jubeln.
Ein Konzert der Antilopen Gang in der Berliner Columbiahalle, Aufnahme vom 25. August 2021.
Deutschrap ist so vielgestaltig wie die Welt. Von ernsthafter Gesellschaftskritik bis zu einer Menge von reaktionärem Müll ist alles zu finden. Kürzlich veröffentlichte das Deutschrap-Trio Antilopen Gang, deren Fangemeinde höchstwahrscheinlich für sich beanspruchen würde, in irgendeiner Form kritisch zur Gesellschaft zu stehen, den Song »Oktober in Europa«. Dieser wurde unter großem Jubel vonseiten der konservativen Presse und Politik aufgenommen, die sich entsprechend fleißig um seine Verbreitung bemühten. Den Höhepunkt bildete dabei ein Artikel der Bild-Zeitung, in dem der Songtext Zeile für Zeile abgedruckt und erklärt wurde, um der eigenen Leserschaft die vermeintliche Doppelmoral der Linken aufzuzeigen – über die man sich natürlich schon lange vor dem jüngsten Geniestreich der Antilopen Gang im Klaren war.
Musikalisch ist der Song so schlecht, dass man schlichtweg nicht über ihn reden müsste. Doch da er die Vertonung der Position des deutschen Konservatismus über das Verhältnis der Linken zum Nahostkonflikt darstellt – und dabei durchaus auf Zustimmung in einigen Teilen der Linken stößt – muss man sich wohl oder übel mit der andauernden Clownerie des »gefährlichen Dan« und seiner Boyband auseinandersetzen.
Das nervt. Denn generell ist die Antilopen Gang, wenn man sich eine Weile in linken Kreisen bewegt hat, ein bisschen wie das anstrengende Nachbarskind von früher, von dem einem die eigenen Eltern immer gesagt haben, man solle es doch mitspielen lassen, weil es doch eigentlich ganz nett sei: Egal, wie sehr man probiert, ihm aus dem Weg zu gehen – früher oder später taucht es immer wieder auf.
Hip-Hop entstand in den 1970er Jahren in den ghettoisierten Gemeinden von Schwarzen und Latinos in New York. Er wurde – alles andere als frei von Widersprüchen – zu einer Möglichkeit, um den eigenen Unmut über den rassistischen Alltag, Polizeigewalt und die soziale Ungerechtigkeit in den USA auszudrücken und eine Art Gegenkultur zu entwickeln, die heute leider fast vollständig integriert und kommerzialisiert wurde. Dennoch gibt es eine bis heute lebendige Tradition von Hip-Hop als Ausdruck von Wut und Protest, die auf Artists wie N.W.A, Queen Latifah, Dead Prez zurückgeht. Künstlerinnen wie Akua Naru oder Lauryn Hill halten sie am Leben.
Entsprechend massiv wurde die Musik in ihrer Anfangszeit in den USA durch die konservative Medienlandschaft und die Politik angegriffen, die in ihr den sittlichen Verfall der Jugend und den Untergang der guten, weißen amerikanischen Zivilisation sah. Traurige Berühmtheit erlangte dabei ein Konzert von N.W.A. im Jahr 1989, das unter brutaler Polizeigewalt aufgelöst wurde, nachdem die Crew ihren Song »Fuck the police« performte, der daraufhin zu einer Art Symbol für den Kampf gegen den rassistischen Alltag in den USA wurde.
»Die Inflationierung des Antisemitismusbegriffs bis in die Bedeutungslosigkeit scheint in diesen Lyrics zu ihrem Abschluss gekommen zu sein.«
Dass nun eine Gruppe, die sich desselben Mediums bedient, zur neuen Lieblingsband des deutschen Konservatismus wurde, ist bemerkenswert. Es würde wohl Wochen dauern, einer nicht in Deutschland lebenden Person zu erklären, warum eine in der Selbstbezeichnung antifaschistische Gruppe ihren kompletten Text vom bekanntesten rassistischen Hetzblatt Zeile für Zeile mit Begeisterung abgedruckt bekommt.
Über die Bild-Zeitung hat der Titanic-Kolumnist Max Goldt alles Wesentliche gesagt: »Die Bild-Zeitung ist ein Organ der Niedertracht. Es ist falsch, sie zu lesen. Jemand, der zu dieser Zeitung beiträgt, ist gesellschaftlich absolut inakzeptabel. Es wäre verfehlt, zu einem ihrer Redakteure freundlich oder auch nur höflich zu sein. Man muss so unfreundlich zu ihnen sein, wie es das Gesetz gerade noch zuläßt. Es sind schlechte Menschen, die Falsches tun.«
Die Methoden der Zeitung – bei möglichst jeder Gelegenheit nach unten und links zu treten, keine Chance zur Diffamierung auszulassen und es dafür mit der Objektivität nicht allzu genau zu nehmen – hat Heinrich Böll vor exakt fünfzig Jahren in seiner großartigen Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum dargestellt, dessen Titel der linke Rapper Disarstar kürzlich in einem Track wieder aufgriff, nachdem auch er zum Opfer einer ihrer Hetzkampagnen wurde.
Anlass für »Oktober in Europa« ist der Überfall der Hamas auf Israel, dem über 1.000 Menschen zum Opfer fielen. Es steht außer Frage, dass jede Person, die diesem barbarischen Akt irgendetwas Positives abgewinnen kann, ins Lager der Feinde emanzipatorischer Politik gehört. Nach dem 7. Oktober fanden in Berlin immer wieder Demonstrationen unter antifaschistischer Beteiligung statt, auf denen dieser Terrorakt aufs Schärfste verurteilt wurde – auch wenn die Antilopen Gang einfach mal das Gegenteil behauptet. Und mit der halben Wahrheit und der Blutgrätsche gegen links rennt man bei Springer natürlich offene Türen ein.
Einmal mehr haben die drei innerlinken Berufsquerulanten ihren Gratismut bewiesen – um wahrscheinlich mal wieder kritisch in den Diskurs einzugreifen. Sicherheitshalber wurde dann aber doch gleich die Kommentarfunktion auf allen Plattformen deaktiviert, weil sie sonst wohl ein Argument in diesem wirren Sammelsurium von Gedankenfetzen hätten erklären müssen. Stattdessen versuchte dann der Taz-Kulturredakteur Dirk Knipphals erfolglos, den ganzen Blödsinn wieder in eine kohärente, kritische Position zusammenzufügen.
»Was im Gazastreifen passiert, darf in dem Song mit keinem Wort erwähnt werden, da die Anerkennung des Leidens in Gaza die Position der Antilopen Gang ihrer Widerspruchsfreiheit berauben würde.«
In seinem Artikel lobt er den Song als »eine berührende Momentaufnahme in Sachen Antisemitismus«, der kritisch in eine konkrete gesellschaftliche Lage interveniere. All jenen, die bei dem Vorwurf nicht mitgehen wollen, die Empathie mit den Zivilisten in Gaza sei lediglich ein Vorwand, um den eigenen Antisemitismus auszuleben, gibt er zu bedenken: »Wer diesen Vorwurf kritisiert, sollte ihm direkt ins Auge sehen und ihn keineswegs dazu benutzen, die ratlose Traurigkeit und den mit ihr verbundenen konkret kritischen Impuls dieses Songs zu delegitimieren.« Und genau hier liegt die Crux.
Der Song ist ein kulturindustrielles Produkt der schlechtesten Sorte, der durch seine sentimentale Untermalung mit Streichinstrumenten auf ganz banale Weise völlig nachvollziehbare Emotionen aktiviert, um sie für die eigene Position zur Situation in Nahost fruchtbar zu machen, die weit über Empathie für die Opfer des 7. Oktober 2023 und Wut über die antisemitische Wirklichkeit hinausgeht. Auf perfide Weise werden darin Unwahrheiten und analytische Unzulänglichkeiten in der eigenen Betroffenheit verkleidet.
Das Verhältnis der Linken zu Israel beschäftigt nicht nur die Linke seit der Gründung des Staates. Ein Text, den es in dieser Diskussion hervorzuheben gilt, ist »Ein kategorischer Imperativ – Die politische Linke und ihr Verhältnis zu Israel« des Soziologen Detlev Claussen, dessen Engagement in der Analyse des Antisemitismus in Deutschland nach 1945 wohl kaum zu überschätzen ist. Darin warnt er bereits Ende der 1980er Jahre davor, »dass der Begriff des Antisemitismus inflationiert wird« und damit langfristig dem Kampf gegen den Antisemitismus schadet. Genau diesen Bärendienst haben ihm seitdem weite Teile der deutschen Linken erwiesen, die dabei nun auch endgültig von der Antilopen Gang als Blaskapelle begleitet werden.
Grundsätzlich bewahrheitet sich in dem Song die Feststellung des Sozialphilosophen Max Horkheimer: »Was an der Solidarität durch den Prozeß der Erkenntnis bedroht wird, ist das noch Unreine und Schlechte an ihr.« Soll heißen: Wenn die Solidarität davon lebt, alle Nachrichten zu ignorieren oder zu leugnen, welche die eigene Position infrage stellen könnten, dann scheint etwas mit ihr nicht zu stimmen. Wer die Debatten über den Konflikt im Nahen Osten verfolgt, bemerkt recht schnell, welche Virtuosität so mancher entwickelt hat, die Nachrichten je nach dem eigenen Weltbild zu filtern.
»Polemisch fragt der ›gefährliche Dan‹, ob das jetzt ›diese sogenannte Israel-Kritik‹ sei, wenn Davidsterne an Haustüren gesprüht werden. Dass das außer ihm eigentlich niemand behauptet, spielt dabei keine Rolle.«
Was seit der Reaktion Israels auf den Angriff der Hamas im Gazastreifen passiert, darf folglich in dem Song mit keinem Wort erwähnt werden, da die Anerkennung des Leidens in Gaza die Position der Antilopen Gang ihrer Widerspruchsfreiheit berauben würde. In Gaza sind mittlerweile über 30.000 Menschen gestorben. 1,9 Millionen Menschen – also 85 Prozent der Bevölkerung – wurden vertrieben.
Wie Berichten von Organisationen wie Unicef, medico international und vielen anderen zu entnehmen ist, hat dort in den letzten Wochen das Verhungern von Kindern begonnen, das lange vorhergesagt wurde. Jedes dritte Kind in Gaza ist nun akut mangelernährt. Es häufen sich die Berichte über Kinder, die durch Hunger lebenslange Schäden davontragen werden, und Menschen, die Gras und Tierfutter essen, um zu überleben. »Palästinensisches Leben« so schreibt medico international über das Vorgehen des israelischen Militärs, »soll im Gazastreifen nur noch als nacktes, bloßes Leben existieren.« Selbst die treuesten Unterstützer der rechtsextremen Regierung Israels sind langsam über deren Vorgehen bestürzt und erhöhen den Druck, um auf einen Waffenstillstand hinzuwirken.
Doch davon lassen sich die drei innerlinken Berufsquerulanten der Antilopen Gang natürlich nicht täuschen, sondern erkennen mit ihrem geschärften Blick aus zwanzig Jahren Jungle-World-Lektüre die wahren Motive hinter dem Wunsch nach Frieden: »Heute sind die größten Antisemiten/ Alle Antirassisten, gegen Hass und für Frieden«. Hinter jedem Engagement für ein Ende des Leids in Gaza steckt demnach nichts als Antisemitismus. Entsprechend wird dann auch wirklich alles, was seit dem Oktober 2023 passiert ist, von jeglichem Kontext befreit und mit dem Label des Antisemitismus versehen.
Das trifft dann neben anderen auch Greta Thunberg, die in den vergangenen Jahren unter fleißiger Mitarbeit der neuen Freunde der Band aus dem Hause Springer zum Lieblingsobjekt der Gewaltphantasien deutscher Männer gemacht wurde, die Angst um ihren Diesel-Motor haben. In dem Song wird sie neben die Hamas gestellt und ohne Unterschied mit dem Label des Antisemitismus versehen: »Überraschung: Auch Greta hasst Juden.«
Die Inflationierung des Antisemitismusbegriffs bis in die Bedeutungslosigkeit scheint in diesen Lyrics zu ihrem Abschluss gekommen zu sein. Und auch hier befindet sich die Antilopen Gang in guter deutscher Tradition, in der gerade flächendeckend Jüdinnen und Juden, die Israels Vorgehen in Gaza kritisieren, in Orwell’scher Manier des Antisemitismus bezichtigt. Zu diesen Menschen würden heute zweifelsohne auch viele Holocaust-Überlebende wie Ester Bejarano, Marek Edelmann und andere zählen, die sich bis an ihr Lebensende für den Frieden in Nahost und die Rechte von Palästinenserinnen und Palästinensern einsetzten.
Im Prinzip ließe sich das argumentative Durcheinander an fast jeder Stelle des Songs weiter aufzeigen. So werden dann auch noch ganz fix die »Zivilisten in Gaza« zum »Schutzschild der Nachfahr’n der Judenvergaser«. Polemisch fragt der »gefährliche Dan«, ob das jetzt »diese sogenannte Israel-Kritik« sei, wenn Davidsterne an Haustüren gesprüht werden. Dass das außer ihm eigentlich niemand behauptet, spielt dabei keine Rolle. »Ich mach mir die Welt Widdewidde wie sie mir gefällt«, heißt es ja auch schon bei einem anderen recht berühmt gewordenen Nachbarskind.
»Immer wieder rühmen sich die drei Herren mittleren Alters ganz stolz damit, von niemandem verstanden zu werden, ohne zu verstehen, dass sie selbst überhaupt nichts verstanden haben, was andere zu verstehen hätten.«
In der Regel reklamiert die Antilopen Gang für sich, durch Provokation Debatten anzuregen, wenn auch nicht in der eigenen Kommentarspalte und eigentlich auch nirgendwo anders, wo sie ein Argument in einer ernsthaften Diskussion vertreten müssten. Dem liegt ein Irrglaube zugrunde, den Leute wie Ulf Poschardt von der Welt und Jan Fleischhauer vom Focus zu einem Geschäftsmodell gemacht haben, mit dem sie wahrscheinlich im Gegensatz zur Antilopen Gang gut Geld verdienen. Es ist die Annahme, eine unbequeme Wahrheit ausgesprochen zu haben, wenn sich möglichst viele Menschen über einen Debattenbeitrag aufregen.
Das ist natürlich Blödsinn. Wenn ich möglichst viele Menschen in kurzer Zeit provozieren möchte, kann ich auch mit der Harley Davidson auf dem Fahrradweg fahren oder öffentlich in der Sonntagsmesse Drogen konsumieren – beides hat dann in etwa auch den kritischen Gehalt des jüngsten Songs der Antilopen Gang. Immer wieder rühmen sich die drei Herren mittleren Alters ganz stolz damit, von niemandem verstanden zu werden, ohne zu verstehen, dass sie selbst überhaupt nichts verstanden haben, was andere zu verstehen hätten. Kohärent ist das Ganze nur darin, immer wieder ein narzisstisches Bedürfnis nach Aufmerksamkeit zu befriedigen.
Die Situation ist aber zu ernst für diese Clownerie. Nicht wenige Menschen verzweifeln tagtäglich an der Ausweglosigkeit in Nahost und der Unmöglichkeit, das Leiden der Menschen in Israel und Palästina endlich zu beenden. Detlev Claussen bemerkt dazu am Ende seines Textes: »Eine linke Position in diesem Konflikt kann nur in der Forderung nach gegenseitiger Anerkennung der kämpfenden Parteien bestehen, damit der Kampf nicht endet im Untergang der Kämpfenden – eine Gefahr, die ich für höchst real halte.«
Dass es zwischen den oft dominierenden Positionen, die sich strikt verweigern, das Leid der anderen Seite zu sehen, geschweige denn zu verstehen, auch zahlreiche Menschen gibt, die sich diesem Entweder-Oder verweigern, ist wohl das Einzige, was angesichts des unvorstellbaren Leids der Menschen vor Ort noch Hoffnung gibt. Die Line »Alle fragen: für wen bist du?/ als wäre der Nahostkonfilkt ein Clasico« aus dem besagten Track von Disarstar reflektiert das.
Bei den Fragen, die hier zur Debatte stehen, geht es aber nicht um Fußball, sondern um etwas Bitterernstes. Das macht die permanente Selbstinszenierung als kritische Kritiker, die so kritisch und deviant sind, dass es für Außenstehende gar nicht möglich sei, sie zu verstehen, so unerträglich. Dass die Antilopen Gang meint, mit diesem Song angesichts der momentanen Situation ein weiteres Zeichen ihrer pseudokritischen Provokation der Linken setzen zu müssen und damit eine Verständigung, die kaum möglich scheint, weiter zu erschweren, ist in höchstem Maße niederträchtig. Das nicht, weil sämtliche rechte Politiker und Hetzblätter ihn nun in ihrem Interesse verwerten, sondern weil es sich im Wesentlichen um dieselbe Position handelt.
Dass er dem Autoritarismus durchaus etwas abgewinnen kann, hat der »gefährliche Dan« im Prinzip auch schon preisgegeben, als er sich während der Blockupy-Proteste gegen die europäische Austeritätspolitik »sehr froh über Rechtsstaatlichkeit, über Polizisten, die diese Leute [die Demonstrierenden] dann im Zaum halten.« zeigte. Am liebsten hätte er dann gleich noch auf der Seite der Polizei mitgekämpft – gewohnt heroisch: »Mit Waffengewalt.« Eine beachtenswerte Entwicklung, wenn man sich die Anfänge des Hip-Hops in den USA vor Augen führt. Sie sind eine Peinlichkeit für kritisches Denken und Hip-Hop gleichermaßen. Alles in allem wäre es wohl verfehlt, zu irgendeinem Mitglied der Band »freundlich oder auch nur höflich zu sein. Man muss so unfreundlich zu ihnen sein, wie es das Gesetz gerade noch zuläßt.«
Christoph Morich ist Sozialwissenschaftler und Musikliebhaber.